#nr19 | Publikum
Wider den Verdruss
Mediale Dauerbrenner gehen dem Publikum irgendwann auf die Nerven. Beim „Brexit“ ist das anders. Warum?
von Pascal Patrick Pfaff
Drei Jahre Dauerberichterstattung und kein Ende in Sicht. Trotzdem interessiert im anhaltenden „Brexit“-Theater immer noch nahezu jede kleine Wendung der Ereignisse. „Ich schreibe seit zwei Jahren mindestens einen Artikel pro Tag, manchmal drei: Für Online, für Print, für unterschiedlichste Podcasts“, sagt Cathrin Kahlweit, Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung (SZ) für das Vereinigte Königreich und Irland. „Es wird mir immer noch aus den Händen gerissen.“
Wann das Publikum eines Themas überdrüssig wird, lässt sich nicht vorhersagen. Christina Schumann, Medienforscherin an der Technischen Universität Ilmenau, hat das Phänomen Themenverdrossenheit untersucht und dafür mehrere Hundert Rezipienten befragt. Ihr Ergebnis: Dass Medien-Konsumenten von einem Thema genervt sind und davon nichts mehr sehen und hören möchten, weil zu lange und intensiv berichtet wurde, trifft vor allem auf Nachrichten aus Politik und Gesellschaft zu – etwa bei der Eurokrise oder der Affäre um den ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff vor rund fünf Jahren.
Die Lust auf den Brexit
Heute steht zum Beispiel die „Fridays for Future“-Bewegung um die Aktivistin Greta Thunberg im Fokus der Medien. Ihre starke Präsenz in den Nachrichten ist laut Schumann durch die Wiederholung ihrer immer gleichen Botschaft gekennzeichnet. Die Medienwissenschaftlerin vermutet, dass eine als zu massiv wahrgenommene Berichterstattung den Verdruss-Effekt begünstigt.
Dass hingegen Großbritanniens bevorstehender EU-Austritt die Leser fortwährend fasziniert, erklärt SZ-Korrespondentin Kahlweit mit der medial vermittelten Dramatik: „Der Brexit ist Hollywood, der Brexit ist ‚Game of Thrones‘ – ein irres politisches Thema.“ Er sei Drama, Farce und Comedy zugleich, eben „eine Mischung aus Versagen des Parlamentarismus, seltsamen Politikern, Schimpfwörtern, Schreiereien, Tränen“. Und: Weil es wie die Fortsetzung einer TV-Serie wirkt, sei die ganze Sache „sehr viel leichter zu verkaufen“.
Unterbelichtetes beachten
Dass Medienkonsumenten vom Brexit scheinbar nicht genug bekommen, liegt also womöglich an dessen Unterhaltungswert. Zudem interessiert sich das Publikum offenbar für unterbelichtete Aspekte. Kahlweit achtet deswegen darauf, „eine Region oder ein Thema immer wieder aufzugreifen, um Erfolge, Misserfolge und Entwicklungen zu beschreiben“.
Medienforscherin Schumann rät Journalisten, in ihrer Berichterstattung über ein und dasselbe Thema flexibel zu bleiben und immer wieder einen neuen Fokus zu setzen. So lässt sich im besten Fall der Themenverdruss des Publikums abschwächen. Redaktionen müssten die Rezipienten informieren, „ohne sie mit zu viel Redundanz zu überfordern“, sagt Schumann. Dies hat auch UK-Korrespondentin Kahlweit verinnerlicht: „Man muss aufpassen, dass man sich nicht im Klein-Klein verliert, dass man es nicht zu kompliziert macht.“
15. August 2019