#nr21 | Datenjournalismus
Workout für Algorithmen
Wie klug Künstliche Intelligenz im Redaktionalltag agiert, hängt davon ab, wie gut wir sie trainieren.
von Vivien Ulm
Geht es um die gezielte Recherche in großen Datenmengen, kann KI als Werkzeug für Journalist:innen sehr hilfreich sein. Das zeigen Beispiele wie die große Schufa-Recherche des Bayerischen Rundfunks (BR) und des Nachrichtenmagazins Der Spiegel oder die Untersuchung des Schweizer Fernsehens zu Fake-Followern bei Schweizer Influencern. Denn mithilfe von KI ist es möglich, Informationen aus Datenbanken oder Open Source Intelligence (s. Glossar) zu sammeln oder selbst Datenbanken zu erstellen und diese auszuwerten.
Christina Elmer, stellvertretende Entwicklungschefin beim Spiegel und demnächst Professorin an der Technischen Universität Dortmund, erklärt: „Künstliche Intelligenzen haben mit lernenden Systemen zu tun, die auf Daten aufbauend Muster erkennen und diese Muster auf neue Daten anwenden können.“ Hintergrund dieser Entwicklung im Journalismus ist neben der Digitalisierung die Datafizierung. „Und gerade eine Kombination aus neuen Methoden der Datenanalyse mit traditioneller journalistischer Recherche ermöglicht am Ende eine sehr gute Geschichte“, sagt Ulrike Köppen, Leiterin des Datenteams beim BR.
Üben, üben, üben
KI erleichtert die Arbeit von Journalist:innen durch die Abnahme von repetitiven Aufgaben: Zusammenfassen, Übersetzen oder Transkribieren von Texten sowie Suchmaschinenoptimierung. Das schafft mehr Raum für Kreativität und Zeit für neue Ideen.
Jedoch sind sich Journalist:innen der genauen Funktionsweise der neuen Tools oft nicht bewusst. Timo Grossenbacher, Projektleiter Automated Journalism bei der Schweizer Mediengruppe Tamedia, spricht gar von einer „Black Box“.
Elmer erklärt: „KI kann erst dann gut unterstützen, wenn man den Bereich klar definiert hat, die von der KI aufgenommenen Informationen gut managen und mit den Ergebnissen strategisch weiterarbeiten kann.“ Es braucht demnach ein Grundwissen – eine Algorithmic Literacy –, wie Werkzeuge mit KI entstehen.
Denn KI kommt dort an ihre Grenzen, wo sie falsch eingesetzt wird. Wer mit KI sinnvoll recherchieren will, braucht „eine allgemeine Affinität zu Technologie-Entwicklungen, Verständnis von Datenanalysen und -auswertungen, Kenntnisse von Programmen, Tools und deren Steuerung und redaktionsspezifische Teamkompetenzen“, sagt Frank Hänecke, Studienleiter der Schweizer Journalistenschule MAZ. Besonders wichtig ist das interdisziplinäre Arbeiten zwischen Journalismus, Programmieren, Statistik und insbesondere Maschinellem Lernen. „Der Vorteil von interdisziplinären Teams ist, dass man aus verschiedenen Perspektiven auf ein Thema schaut. Das ergibt interessantere Hypothesen und die Möglichkeit, in der Redaktion verschiedene Lösungsansätze zu entwickeln“, sagt Köppen.
Dazu bedarf es immer neuer Impulse, Reflexion und eines ständigen Trainings der Algorithmen. Denn nur wenn man weiß, wie ein Algorithmus mit Daten umgeht, kann Fehlern vorgebeugt werden. Für die Spiegel-Journalistin Elmer liegt „eine Gefahr in dem Prinzip, dass eine künstliche Intelligenz aus den Daten der Vergangenheit lernt und die darin gefundenen Muster und Regeln auf die Zukunft anwendet. Nicht immer wollen wir die Verhältnisse der Vergangenheit aber unsere Zukunft prägen lassen.“
Falsche Grundannahmen
Konkret heißt das: Enthalten Datensätze, mit denen Algorithmen zu Trainingszwecken gefüttert werden, beispielsweise demographische Verzerrungen (z.B. Überrepräsentation einzelner Gruppen) kann das zu einem Bias gegenüber anderen, oft sozial benachteiligten Gruppen (z. B. Frauen, People of Colour, Homosexuelle, Migranten oder religiöse Minderheiten) führen.
Frauen werden beispielweise in automatisierten Bewerbungs- oder Kreditsystemen oft benachteiligt, da Männer in der Vergangenheit bevorzugt wurden. Auch Menschen mit dunkler Hautfarbe werden von automatischen Seifenspendern ignoriert oder von selbstfahrenden Autos übersehen, weil in den Trainingsdaten mit hellhäutigen Menschen trainiert wurde. Abgesehen von solchen diskriminierenden Systemen gibt es noch viele andere Bereiche, in denen Fehler auftreten.
Zu Beginn der Covid-Pandemie rechnete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit einer sehr hohen Mortalitätsrate in Afrika. Das Horrorszenario trat zum Glück nicht ein. Ein Grund dafür: Die WHO hatte bei ihren Prognosen mit europäischen Modellen gearbeitet. Afrikas sehr viel jüngere Bevölkerungsstruktur und die Erfahrungen vieler Länder im Umgang mit Infektionskrankheiten waren offenbar nicht ausreichend berücksichtigt worden.
Ein Blick in die Glaskugel
Wie sieht die Zukunft der KI im Journalismus aus? Laut MAZ-Studienleiter Hänecke werden Recherchewerkzeuge weiter automatisiert und mit Datenströmen verzahnt. Er meint: „Zukünftige Journalist:innen werden häufiger in die Steuerung von KI und Algorithmen involviert sein. Es ergeben sich neue Anforderungen und Rollen, wobei sich klassische journalistische und neue technologiebasierte Kompetenzen und Aufgaben vermischen.“ Auch Grossenbacher von Tamedia prophezeit ein besseres Miteinander von Mensch und Maschine, bei dem Maschinen mehr auf die Bedürfnisse von Journalist:innen ausgerichtet werden. Für Elmer, die bald Journalistik-Studierende mit KI vertraut machen wird, liegt die Zukunft in der Frage: Für wen werden die Inhalte aufbereitet? Sie sagt: „Wir werden zentral technischer werden, müssen uns aber, um weiterhin guten Journalismus zu leisten, mehr mit den Leser:innen auseinandersetzen und nutzer- und zielgruppenorientierter arbeiten.“